Lebensgefahr fuer MenschenrechtlerInnen

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Thu May 21 20:34:00 BST 1998


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Regionalbüro Friedenszug "Musa Anter" und Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V. 
gemeinsame Pressemitteilung 

"MenschenrechtlerInnen weiter in Lebensgefahr"
Ärztedelegation der IPPNW und der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum aus Ankara zurückgekehrt


Auf Initiative der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum e.V. und der deutschen Sektion der "Internationalen ÄrztInnen gegen den Atomkrieg / ÄrztInnen in sozialer Verantwortung" (IPPNW) haben in der vergangenen Woche je ein Vertreter der beiden Organisationen Ankara besucht. Am 12. Mai hatten dort zwei Attentäter der in der Türkei operierenden rechtsradikalen Todesschwadronen den prominenten Menschenrechtler Akin Birdal mit sieben Schüssen lebensgefährlich verletzt 

Die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V. war durch den Bochumer Arzt Knut Rauchfuss vertreten. Für die IPPNW nahm der Hamburger Professor Dr. Gerhard Garweg an der Delegation teil.

Die Mediziner haben sich in Gesprächen vor Ort ein Bild über den aktuellen Gesundheitszustand des Schwerverletzten machen können. Außerdem führte die Delegation Gespräche mit den behandelnden ÄrtzInnen und der Ärztekammer. 

Nach ihrer Rückkehr legte die Delegation einen Bericht vor, den wir im folgenden in Kurzform dokumentieren.

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"Wir werden mit ganzer Kraft weitermachen"
Akin Birdal auf dem Weg der Besserung - MenschenrechtlerInnen weiter in Lebensgefahr

Als die beiden Attentäter die Räumlichkeiten des Menschenrechtsvereines IHD  betraten, konnten sie sich sicher fühlen. Die Polizeieinheiten, die normalerweise das Viertel kontrollieren, in dem sich neben dem IHD auch Konsulate und Ministerien befinden, waren ebenso abgerückt, wie jene, die zur täglichen Bespitzelung des Vereines abgestellt sind. Auch war den Auftragskillern bekannt, daß sich ihr Opfer, Akin Birdal, der Vorsitzende des Menschenrechtsvereines, ohne die übliche Abschirmung durch seine Stellvertreter in seinem Büro befand.
Unter dem Vorwand, ein Freund der Beiden sei auf der Kundgebung am 1. Mai in Ankara verhaftet worden, verschafften sie sich Zutritt zu Birdals Büro. Doch der IHD-Vorsitzende durchschaute das Spiel schnell. Morddrohungen in den Tagen zuvor hatten ihn mißtrauisch gemacht. Auch war Birdal bekannt, daß es am 1. Mai in Ankara nicht zu Verhaftungen gekommen war. "Den Ausschlag gab die Tatsache, daß beide ihre T-shirts über der Hose trugen", erklärt Nazmi Gür, Stellvertreter Birdals, "das tun hier üblicherweise nur Zivilpolizisten und andere Leute, die eine Waffe im Hosenbund verbergen möchten."
Birdal schaltete blitzschnell, er forderte sie auf, sich von seiner Sekretärin die Adresse des zuständigen Vereins in Ankara geben zu lassen und dirigierte sie zur Tür, als beide ihre Waffen zogen und die ersten Schüsse auf den Menschenrechtler abfeuerten. Ins Bein getroffen, fiel dieser zu Boden. Es gelang ihm jedoch, sich gegen die Tür zu werfen und diese halb zu schließen. Die Attentäter feuerten durch die Tür, die einen großen Teil der Schüsse abfing. Drei weitere Kugeln trafen Birdal in die Brust, wurden jedoch so abgelenkt, daß sie keine inneren Organe schädigten. Im Glauben ihren Auftrag ausgeführt zu haben verließen die Attentäter unbehelligt das Gebäude.
"Insgesamt sieben Kugeln haben Akin Birdal getroffen und die Schlagadern des linken Beines und des rechten Armes komplett zerstört," berichtet der Chefarzt der Intensivstation des benachbarten Sevgi-Krankenhauses. "Obgleich er viel Blut verlor und bei seinem Eintreffen hier im Krankenhaus einen Herz-Kreislauf-Stillstand hatte, ist es wie ein Wunder, daß weder Lunge noch Leber verletzt wurden."
Drei Spezialteams heben den Vorsitzenden des Menschenrechtsvereines operiert. Bereits nach 22 Stunden war der Schwerverletzte wieder bei Bewußtsein und konnte über den Tathergang berichten. Doch die sogenannten Sicherheitskräfte zeigen sich wenig interessiert, zu einer Aufklärung des Verbrechens beizutragen. Nicht nur auf Spuren am Tatort mußten sie immer wieder von Anwälten des IHD hingewiesen werden. AugenzeugInnen berichten übereinstimmend, daß die angefertigten Phantombilder kaum mit ihren Aussagen übereinstimmen. Jene Einsatzkräfte, die dazu abgestellt wurden, das Krankenhaus zu bewachen gehören zu einem großen Teil der faschistischen MHP an und provozieren mit deren Gruß die MenschenrechtlerInnen, die nun auf eigene Faust versuchen, den Eingang zur Intensivstation abzuschirmen. Erst nach mehrfacher Aufforderung erklärte sich die Polizei bereit, die Telefone des Krankenhauses abzuhören, auf denen ständig anonyme Bombendrohungen eingingen.
Zu dem Anschlag bekannt hat sich die "Türkische Rachebrigade", eine jener Todesschwadronen, die Anfang der neunziger Jahre durch die türkische Regierung ausgebildet wurden, um sich mit ihrer Hilfe unliebsamer Oppositioneller insbesondere in den kurdischen Gebieten zu entledigen. Insgesamt 14 Mitglieder des IHD fielen seit seinem Bestehen Anschlägen durch sogenannte "unbekannte Täter" zum Opfer. 
Propagandistisch war auch dieses Attentat in den vergangenen Wochen bereits medienwirksam vorbereitet worden. Zeitungen und Fernsehen hatten unter Berufung auf angebliche Aussagen des inhaftierten ehemaligen PKK-Führungsmitgliedes, Semdin Sakik, das Gerücht verbreitet, Birdal werde von der PKK finanziert und erhalte seine Anweisungen unmittelbar aus deren Hauptquartier in Syrien. Neben Birdal werden derzeit täglich weitere Angehörige demokratischer Institutionen, Organisationen, Vereine und Parteien, sowie Personen des öffentlichen Lebens mit neuen, angeblich von Sakik stammenden Enthüllungen diffamiert
Nach mehreren Drohungen hatte Birdal nicht nur erfolglos Polizeischutz beantragt, auch die Weigerung ihm einen Paß für eine Reise nach Deutschland auszustellen, legt nahe, daß seine Anwesenheit zum geplanten Attentatszeitpunkt gewährleistet sein sollte. Darüber können auch die Krokodilstränen nicht hinwegtäuschen, die türkische Politiker im Krankenhaus vor laufenden Kameras vergossen. Nur zwei Tage nach dem Attentat bezichtigte Ministerpräsident Yilmaz den IHD der Tat. 
Akin Birdal hat die Schüsse erstaunlich gut überlebt. Bereits nach drei Tagen bestellte er sämtliche Tageszeitungen auf die Intensivstation. Doch dies heißt nicht, daß sich der Menschenrechtsvereinsvorsitzende nunmehr "nicht länger in Lebensgefahr" befindet, wie mehrfach gemeldet wurde. Nicht nur Akin Birdal steht weiterhin auf der Abschußliste des Staates. 
Das Attentat hat große Verunsicherung unter den Demokratischen Kräften hinterlassen. "Wer von uns wird der Nächste sein?", ist die Frage, die in diesen Tagen häufiger als sonst in der Türkei gestellt wird. Birdals Stellvertreter Nazmi Gür hat seit dem Attentat keine Nacht mehr bei seiner Familie geschlafen. "Ich möchte sie da nicht hineinziehen, falls es mich trifft," sagt Gür. Auch Osman Baydemir aus Diyarbakir und ebenfalls einer von Birdals Stellvertretern muß ständig mit dem Schlimmsten rechnen. Am vergangenen Wochenende wurde er nachts auf dem Heimweg von zwei Unbekannten verfolgt, konnte jedoch mit einem Taxi entkommen.
Akin Birdal weiß um die Bedrohung. Aus dem Krankenhaus wandte er sich in einer ersten Erklärung an die Freundinnen und Freunde des IHD: "Laßt Euch nicht entmutigen Freunde. Wenn ich aus dem Krankenhaus zurück bin, werden wir mit voller Kraft weitermachen !"

(Knut Rauchfuss)






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