EU-Gipfeltreffen in Helsinki
K.RAUCHFUSS at LINK-DO.soli.de
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Wed Dec 15 10:33:00 GMT 1999
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Der Weg zum Frieden führt über die Seidenstraße
Über die geostrategischen Interessen des Westens in
Kurdistan
(von Knut Rauchfuss, 29.11.99)
"Der Westen muß sich grundsätzlich entscheiden, welches
Interesse er an der Türkei hat. Möchte er, daß die Türkei
europäischer Staat wird? [...] Die jetzige Bundesregierung
hat im Unterschied zu ihrer Vorgängerin [...] der Türkei
offensiv angeboten - und hat sich dafür stark gemacht -
Kandidatin für den Beitritt zur Europäischen Union zu
werden." (Ludger Volmer, Staatssekretär im Auswärtigen Amt
der Bundesrepublik)(1)
Die Bundesregierung und im Gleichklang mit ihr die
Regierungen der übrigen Staaten der EU haben sich
entschieden. Im Dezember soll auf dem EU-Gipfel in Helsinki
offiziell beschlossen werden, was längst Konsens unter den
Vertragsstaaten ist: die Türkei wird in den Status der EU-
Beitrittskandidatin gehoben werden.
Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Offizielle
Beitrittsverhandlungen stehen damit noch nicht auf dem
Programm. Dennoch ist es ein offenes Geheimnis, daß
insbesondere die Bundesrepublik die Aufnahme des
südöstlichen NATO-Partners in den Staatenbund aktiv
anstrebt, wären da nicht noch gewisse Hindernisse zu
bewältigen: Krieg, Verfolgung, Vertreibung, Armut, Elend,
Unterdrückung, Folter und politischer Mord.
Ganz im ductus der seit Amtsantritt vorherrschenden
Menschenrechtsrethorik wird die Bundesregierung demgemäß
nicht müde zu betonen, daß letztlich alle Politik gegenüber
dem Land am Bosporus dessen demokratischer Konsolidierung
diene. In dieser deutschen Rethorik geraten außenpolitische
Aktivitäten von der Unterstützung der Beitrittskandidatur
bis zur Lieferung von Kriegsgerät, geraten zaghafter Protest
gegen Menschenrechtsverletzungen und Krieg ebenso wie
Passivität und Schweigen zur diplomatisch-didaktischen
Großtat im Sinne proklamierter
Demokratisierungsbestrebungen.
"Dies ist faktisch die einzige Möglichkeit auf die Politik
der Türkei Einfluß zu nehmen," erklärt Volmer das deutsche
und europäische Engagement und man könnte fast meinen er
glaube dies selbst.(2)
Und ganz nebenbei verändert sich die Weltkarte, wird die
Europäische Union bis Yüksekova reichen, und ein Teil
Kurdistans wird ebenso dazugehören, wie die zur
Unkenntlichkeit zerschlagenen Kleinstaaten des Balkan.
Allein im Namen der Menschenrechte, versteht sich.
Auch die USA schlagen neuerdings bisher ungekannte Töne an,
wenn es um die Türkei geht. In seiner Rede vor dem
türkischen Parlament forderte Präsident Clinton im Vorfeld
des OSCE-Gipfels die Türkei auf, auch den kurdischen Bürgern
der Republik volle Gleichberechtigung zu geben. "Die
Zukunft, die wir zusammen errichten möchten, beginnt mit den
Fortschritten der Türkei, ihre Demokratie zu vertiefen,"
erklärte der US-Präsident. "Souveränität darf nicht auf
Angst basieren," mahnte er, Kemal Atatürk zitierend, die
Abgeordneten und warb für das Recht auf freie
Meinungsäußerung sowie kulturelle Freiheiten. "Wenn
friedvolle Wege existieren, um normale menschliche
Differenzen auszutragen, wird der Frieden bewahrt, nicht
erschüttert. Wenn Menschen ihre Kultur und ihren Glauben in
einer Weise ausüben können, die die Rechte Anderer nicht
einschränkt, werden aus Moderaten keine Extremisten und aus
Extremisten keine Helden." Außerdem warb Clinton für die
Mitgliedschaft in der Europäischen Union. "Europa ist ebenso
eine Idee, wie ein Ort - die Idee, daß Menschen vereint
leben können ohne einheitlich zu sein. Es hat keine fixen
Grenzen. Es reicht soweit die Grenzen der Freiheit gehen
können."(3)
Vor dem Hintergrund dessen, was wir aus der Vergangenheit
über die Methoden europäischer und US-amerikanischer
Türkeipolitik wissen, verblüfft dieser Sinneswandel
zunächst, der sich in den Worten Clintons, ebenso wie in der
europäischen Diplomatie auszudrücken scheint. Überrascht und
zögerlich, gelegentlich gar euphorisch, glauben viele
nunmehr ZeugInnen eines deutlichen Wandels der
außenpolitischen Interessen des Westens zu werden. Und
während wir noch erstaunt der Demokratisierungsrethorik
lauschen, holen uns geplante Panzerlieferungen, Geschäfte
mit Kampfhubschraubern und die Auslieferung von
Oppositionellen wieder auf den Boden der Realität zurück.
Wie erklärt sich der Widerspruch zwischen neuer
Demokratisierungsdiplomatie und militärischer Unterstützung?
Markiert der erklärte Einsatz für Menschenrechte tatsächlich
eine neue Zielsetzung in der europäischen oder
nordamerikanischen Außenpolitik, bzw. stehen die
außenpolitischen Absichten der EU und der USA überhaupt im
Widerspruch zur Lieferung von Kriegsgerät?
Die Ziele und Interessen der neuen europäischen
Türkeipolitik, die Wandlung ihrer Methoden, die Chancen aber
vor allem auch die Risiken und Grenzen dieser Politik,
lassen sich nur vor dem Hintergrund jener Veränderungen
verstehen, die die Europäische Union selbst und ihr
Verhältnis zu den USA in den letzten Jahren durchlaufen hat.
Über lange Jahrzehnte schienen die Fronten der Türkeipolitik
klar. Welche Verbrechen auch immer Militär, Polizei,
staatlich gelenkte Mafia oder die kemalistischen
Biedermänner in Parlamenten und Verwaltung begingen, sie
fanden ihre internationale Rechtfertigung in den
militärstrategischen Interessen der NATO. Ob durch die
sozial-liberale Koalition unter Bundeskanzler Schmidt oder
die christlich-liberale Kohl-Regierung, die Bundesrepublik
wurde der ihr im Rahmen des Bündnisses zugeteilten
Zuständigkeit der militärischen Unterstützung durch
Waffenlieferungen und Ausbildungshilfe stets gerecht.(4)
Im "Kalten Krieg" heiligte der Zweck jedes Mittel. Und die
"Eindämmung des Kommunismus" war als Ziel heilig genug, die
Zerschlagung der türkischen Linken nach dem Militärputsch
von 1980 zu finanzieren. Hatte die NATO doch noch kurz zuvor
einen wichtigen Alliierten durch die islamistische
Revolution im Iran verloren. Den direkten Verlust eines
Mitgliedsstaates wollte man sich keinesfalls leisten. Die
NATO setzte auf Krieg und die türkischen Machteliten,
Polizei und Militär führten ihn. Und von Anfang an traf er
die kurdische Linke mit vielfacher Härte. Mit dem Erstarken
des kurdischen Widerstandes und dem Beginn des
Befreiungskampfes, sollte die Stabilität der Türkei mit dem
militärischen Sieg über die kurdische Freiheit erkauft
werden. Die systematische Zerstörung kurdischer Dörfer,
Zehntausende von Toten, hunderttausende von Menschen auf der
Flucht und all jene Bilder der Barbarei, die sich uns in
mehr als 15 Jahren versuchter Niederschlagung des jüngsten
kurdischen Aufstandes tief in die Erinnerung gebrannt haben,
sie waren der Preis für die Stabilität des westlichen
Bündnisses.
Auch nach dem Ende des "Kalten Krieges" verlor der NATO-
Bündnispartner seine Sonderstellung nicht. Als
geostrategischer Vorposten zum Nahen und Mittleren Osten
blieb die Bedeutung der Türkei unverändert - auch und gerade
gegenüber dem systematisch zur Bedrohung aufgebauten
Politischen Islam. Das "Feindbild Islam" unterschied nicht
mehr zwischen einzelnen Bewegungen und zog eine ganze
Kulturgemeinschaft pauschal in den Sog der Diffamierung.(5)
Wieder und wieder mußte die Argumentation von der
kemalistisch-laizistischen Türkei als Garant gegen den aus
den Nachbarstaaten drohenden "islamistischen Vormarsch" für
die Rechtfertigung der Unterstützung des türkischen Staates
herhalten.
Und der kurdische Aufstand in der Türkei hätte im
Erfolgsfall nicht nur die Ostgrenzen der NATO, sondern ganz
konkret den uneingeschränkten Zugriff auf die Militärbasen
in Incirlik, ebenso wie den Ausbau der GAP-Staudammprojekte
zur Kontrolle der Wasserreserven aus Euphrat und Tigris
bedrohen können.
Das Interesse des Westens bestand folglich in der
Stabilisierung der Regierung in Ankara und der
Stabilisierung eines Militärs, das in Kurdistan auf die
Karte der gewaltsamen Lösung setzte. Weder die USA, noch die
Länder Europas betrieben dabei eine gezielt antikurdische
Außenpolitik. Für sie war es lediglich egal, auf welche
Weise die gewünschte Stabilität erreicht würde. Das Sterben
in Kurdistan war für den Westen somit stets der billigend in
Kauf genommene Preis für "höherwertige" geostrategische
Interessen. Die strategische Instrumentalisierung galt für
die zum "terroristischen Feind" erklärte PKK in
Nordkurdistan ebenso, wie für die nach 1991 zur
Destabilisierung des Iraks instrumentalisierten "Freunde" im
Süden Kurdistans.
Diese von den Ländern der NATO bis auf kleine Nuancen
weitgehend einheitlich betriebene Politik war dabei kaum
ökonomisch motiviert. Die Handelsbeziehungen mit der Türkei
gediehen prächtig und erlitten durch den Krieg in Kurdistan
sogar eher gewisse Nachteile. Die ökonomische Anbindung der
Türkei an die Europäische Union konnte über deren
Mitgliedschaft in der Zollunion zur Zufriedenheit des
europäischen Kapitals betrieben werden, und mit einer
verhaltenen Kritik an der Menschenrechtssituation ließ sich
gar die Auszahlung der im Rahmen der Zollunion vereinbarten
Ausgleichszahlungen sperren. Auf dieser Basis bestand lange
Zeit kein wirkliches Interesse daran, die Türkei zum
Vollmitglied des Staatenbundes zu machen.
So entsprachen die zur Zurückweisung der regelmäßig
vorgebrachten türkischen Beitrittsbegehren angeführten
Argumente - die plötzlich die Demokratiedefizite des Landes
ins Zentrum der Kritik rückten - auch niemals der wirklichen
Motivation für den Ausschluß. Die Regierung in Ankara wußte
nur zu gut, daß nicht Krieg und Menschenrechtsverletzungen
die Tür nach Europa verschlossen hielten, durch die doch
stets auch weiterhin Geld und Waffen zur Unterstützung eben
jener Verbrechen hindurch gereicht wurden. Es war ein
offenes Geheimnis, daß die "Festung Europa" in Wirklichkeit
den Zustrom von Flüchtlingen im Rahmen der Freizügigkeit
fürchtete und obendrein die türkische Ökonomie noch nicht
für beitrittsreif hielt. Und die in der EU maßgeblichen
Konservativen und ChristdemokratInnen, sie glaubten wirklich
an die selbst geschaffene islamistische Gefahr, die sich
bereits in der Türkei breit mache und Europa bedrohe, jenen
"christlichen Club" der sich in eurozentristischer
Überheblichkeit ohnehin den Beitritt eines Landes mit
islamischer Bevölkerung nicht vorstellen konnte.(6)
Über diese Punkte hinaus gab es keine einheitliche
Türkeipolitik im heterogenen Staatenbündnis, ebensowenig,
wie eine einheitliche Europäische Außenpolitik im Nahen und
Mittleren Osten insgesamt. Diese blieb stets auf einzelne
Mitgliedstaaten, allen voran Großbritannien und Deutschland
beschränkt. In Situationen somit, in denen die EU
tatsächlich ernsthaft Kritik an den türkischen Verbrechen
gegen die Menschenrechte übte - und erst Recht in jenen in
denen diese Kritik nur verlogenen Charakter hatte - konnte
die Türkei ihre europäischen Bündnispartner gegeneinander
und gegen die USA perfekt ausspielen. Ihren ökonomischen
Einfluß als wichtigster Handelspartner der Türkei, mochte
die EU niemals in die Waagschale werfen und diplomatisch
konnte sich die Regierung in Ankara stets auf die
bedeutendere USA zurückziehen. Grundsätzlich waren die US-
amerikanischen geostrategischen Interessen im Rahmen der
NATO ähnlicher Art wie die Europäischen. Als Hegemonialmacht
in der Region setzten die USA nur noch rigoroser auf die
türkische Karte.
In den vergangenen Jahren und speziell in den letzten
Monaten, in denen nun alle von der Demokratisierung
sprechen, hat sich an den politischen, ökonomischen und
militärstrategischen Interessen weder für die USA, noch für
die EU substantiell etwas geändert. Was sich geändert hat
ist die EU selbst und die Rolle, die sie in der Zukunft zu
spielen gedenkt.
Insbesondere durch die Wahlen in Großbritannien, Frankreich,
Italien und zuletzt in Deutschland hat die Europäische Union
einen Wandlungsprozeß durchlaufen, der sich am treffendsten
als "Sozialdemokratisierung" des politischen Profils
beschreiben läßt. Insbesondere unter den führenden
Regierungen wurden die Konservativen Parteien auf die
Oppositionsbänke verbannt. Zahlreiche zwischenstaatliche
Widersprüche insbesondere im Bereich der EU-Außenpolitik
sind damit in den Hintergrund getreten und haben zu einem
einheitlicheren Auftreten geführt. Den bislang letzten
großen "Homogenisierungsschub" hat die Europäische
Außenpolitik im Rahmen des Balkankrieges erfahren. Mit
diesem Schritt ist der Staatenbund zum Bündnis avanciert,
das sich seiner Macht bewußt, fortan der Sicherung und
Ausdehnung seiner Interessenssphären, auch im Widerspruch zu
den USA zu widmen gedenkt.(7)
Das "Bemühen der herrschenden Klassen hochentwickelter
kapitalistischer Länder, ihre ökonomischen und politischen
Interessen international auch gegen das Widerstreben anderer
durchzusetzen" erfährt in einer europäischen "expansiven
Sicherungspolitik" eine neue imperialistische
Hochkonjunktur.(8) Während die Ausdehnung der Union ins
nördliche Osteuropa über die "friedliche" Aufnahme der
BeitrittskandidatInnen vollzogen wird, markiert die
Zerschlagung Jugoslawiens und die damit verbundenen Kriege
auf dem Balkan die blutige Variante zukünftiger europäischer
Osterweiterung, gekleidet in die Rethorik humanitärer
Zielsetzungen.(9) Gelohnt hat sich der Feldzug nicht nur für
die europäischen Rüstungsindustrien.(10) Schon jetzt gieren
die ökonomisch abhängigen Kleinstaaten Croatien, Slowenien
und Mazedonien nach der Aufnahme in das europäische
Großmachtbündnis.(11) Bosnien sowie die noch immer
jugoslawischen Teilrepubliken Kosovo und Montenegro, haben
bereits die D-Mark als offizielles Zahlungsmittel
eingeführt.(12)
Mit Javier Solana, der als ehemaliger NATO-Generalsekretär
während des Balkankrieges zu europaweiter Popularität
gelangte, hat die EU nun ihren neuen "Außenminister"
gefunden. Als außenpolitischer Beauftragter wird Solana ab
Ende November auch den Vorsitz des europäischen
Verteidigungsbündnisses der WEU (13) übernehmen, deren
Integration in die EU auf dem EU-Gipfel in Helsinki geplant
ist.(14) Die Vollendung der Herausbildung einer Großmacht
Europa, mit gemeinsamer Außenpolitik und Militärunion soll
noch im kommenden Jahr über innereuropäische Reformen
abgesichert und abgeschlossen werden.(15)
Erstmals besteht in dieser neuen Situation auch ein
tatsächliches Interesse, die Türkei mittelfristig zum
regulären Mitglied der Großmacht EU zu machen und damit die
direkte europäische ökonomische und militärstrategische
Einflußnahme im Nahen und Mittleren Osten zu etablieren und
abzusichern - auch in Konkurrenz zum NATO-Bündnispartner
USA.
Die Interessen der EU an diesem Schritt sind vielfältig.
Neben der Ausweitung der geostrategischen Einflußsphäre
dürfte vor allem der Zugriff auf die Erdölvorkommen am
Kaspischen Meer eine maßgebliche Rolle spielen. Dort liegen
Erdölreserven, die mitunter als die zweitgrößten der Welt
gehandelt werden. Die einzige nutzbare Pipeline führte
zunächst über Russland, von Baku nach Noworossisk an die
Schwarzmeerküste.(16) Diese Route bietet jedoch heute, durch
die politischen Entwicklungen im Kaukasus, den dortigen
russischen Kontrollverlust und die Kriege in Tschetschenien
und Dagestan, bis auf weiteres keine Perspektive für die an
der Ausbeutung der Vorkommen interessierten internationalen
Konzerne, so daß sie aus der mittelfristigen Planung
weitgehend verschwinden mußte.(17) Im April dieses Jahres
wurde eine weitere ins georgische Supsa eröffnet, die
erstmals nicht über russisches Territorium führt.(18) Die
Unsicherheit ob Rußland nach Beendigung des Krieges im
Nordkaukasus nicht versuchen wird, weiter in den Südkaukasus
vorzudringen, scheint Europa wie den USA jedoch zu groß.
Daher war seit langem auch die Routenführung von Baku in den
türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan im Gespräch. Diese Route
scheiterte jedoch bisher einerseits an den beteiligten
Ölkonzernen, für die die Route Baku-Ceyhan mit Abstand die
teuerste Trassenführung darstellt und andererseits an der
schlichten Tatsache, daß dieser Weg mitten durch Kurdistan
und damit ebenfalls durch Kriegsgebiet führt.
Während Rußland noch versucht, die Vorherrschaft über den
Kaukasus und damit über die Nordroute zurück zu erbomben,
wurde auf dem OSCE-Gipfel in Istanbul schließlich die
Unterzeichnung eines Vertrages für die neue Pipeline Baku-
Ceyhan vereinbart. Die beteiligten Staaten haben die
Konzerne so weit von den Kosten entlastet, daß der Bau für
diese wieder lukrativ erscheint. Die Türkei beispielsweise
verzichtet für 10 Jahre auf ihre Einnahmen aus dem
Geschäft.(19)
Doch nicht alleine der 4 Milliarden Dollar umfassende
Pipelinebau rechtfertigt heute das europäisch-
nordamerikanische Interesse an einer befriedeten kurdischen
Region in der Türkei. Im Verlauf der Trasse sollen
Handelsstraßen entstehen, Eisenbahnlinien und ein
Luftkorridor, der die unabhängigen Staaten der
Kaukasusregion aus der territorialen Isolierung befreien
soll. Dabei geht es vor allem darum, Transport- und
Verkehrswege zu erschließen, die weder über Rußland, noch
über den Iran führen.(20) Auch die im Zuge einer
angestrebten Entspannung zwischen Israel und Syrien
vorgesehene Wiedereröffnung des Landweges von Tel Aviv nach
Ankara führt über Kurdistan.(21)
Mit der Entscheidung, die Türkei mittelfristig als
Vollmitglied aufnehmen zu wollen und damit die
geostrategische Schlüsselposition des Landes zu einer EU-
Schlüsselposition zu machen, und mit der Erkenntnis, nunmehr
auch ein Maß an außenpolitischer Handlungsfähigkeit erreicht
zu haben, die dieses Ansinnen nicht mehr rundweg in den
Bereich der realitätsfernen Zukunftsträume verbannt, hat
sich die EU direkt nach Beendigung des Balkankrieges dem
ehrgeizigen Vorhaben Türkei-Integration zugewandt.
Die reguläre Einbindung der Türkei als Mitglied der EU
erfordert jedoch die Befriedung Kurdistans sowie
Veränderungen in der politischen Verfaßtheit der Türkei und
deren ökonomische und soziale Stabilisierung. Andernfalls
wäre weder die ökonomische Nutzung Kurdistans denkbar, noch
die im Sinne der "Festung-Europa" notwendige Kontrolle über
mögliche Migrationsbewegungen innerhalb der Union möglich.
Dabei macht sich die objektive Konkurrenzsituation zu den
USA bei der Vorbereitung zukünftiger Hegemonien im Nahen und
Mittleren Osten interessanterweise subjektiv derzeit noch
kaum bemerkbar. Für beide ist die Demokratisierung der
Türkei zum Schlüssel der Befriedung Kurdistans geworden und
beide wollen diesen Frieden, den sie militärisch nicht
erzwingen konnten. Gelegentlich scheint es sogar, als
konkurrierten die USA und die EU derzeit darin, wer die
Regie über einen Demokratisierungsprozeß führen wird und wer
sich damit den Einfluß auf die Zukunft sichert.
Für die EU hat sich Deutschland in die Schlüsselposition des
Neugestaltungs- und Erweiterungsprozesses katapultiert. Mit
dem ehemaligen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Günter
Verheugen (SPD), der nun als EU-Kommissar für die
Erweiterung der Union zuständig ist, und dem mit
Außenminister Fischer eng vertrauten Europaparlamentarier
Daniel Cohn-Bendit (Grüne), der in Straßburg im Juli den
Vorsitz über die europäisch türkische ParlamentarierInnen-
Kommission übernahm, besetzt die Bundesregierung zwei
zentrale Positionen innerhalb dieses während ihrer
Ratspräsidentschaft eingeleiteten Prozesses.
Sowohl für die USA, als auch für die Europäische Union kann
es sich in Zukunft als entscheidend erweisen, wer diesem
Prozeß seinen Stempel aufzudrücken vermag; sprich: wer in
der Zukunft seine Vorherrschaft in der Region auszubauen
versteht oder zu verlieren riskiert. Daher setzen beide
vordergründig einheitlich auf den Demokratisierungsprozess
in der Türkei als Schlüssel zur zukünftigen Hegemonie in der
Region. Trotz konkurrierender Interessen in diesem Prozeß
resultiert auf der politischen Ebene ein synergistisches
Handeln, das es der Türkei derzeit erschwert, die EU und die
USA wie in der Vergangenheit gegeneinander auszuspielen.
Das Rennen um die Demokratisierung hat begonnen - für die
EU: unter deutscher Regie. Interessant erscheint insofern
ein Blick auf die Wege und Ziele, die die EU für die von ihr
favorisierte Form der Demokratisierung anstrebt, denn nur
aus ihnen lassen sich Chancen und Risiken dessen ableiten,
was mit diesem Kurs möglich ist.
"Wir wollen die Türkei demokratisch, friedlich,
multikulturell und vereint," faßte der griechische
Außenminister Papandreou die Rahmenbedingungen der
europäischen Integrationspolitik Anfang November
zusammen.(22) Diese ergeben sich als Bedingungen aus Artikel
49 in Verbindung mit Artikel 6 des Amsterdamer EU-
Vertrages(23), sowie den vom Europäischen Rat 1993 in
Kopenhagen formulierten Beitrittskriterien. Danach ist
Voraussetzung für einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft, daß
ein Staat folgende Grundsätze achtet: Freiheit, Demokratie,
Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie
Rechtsstaatlichkeit. Auch eine Lösung des bewaffneten
Konfliktes in Kurdistan ist formal über diese Kriterien mit
erfaßt. In einem Briefwechsel mit dem deutschen
Bundeskanzler Schröder im Vorfeld des Europäischen Rates
Anfang Juni in Bonn, erkannte der türkische
Ministerpräsident Bülent Ecevit die o.g. Verpflichtungen und
Beitrittskriterien als verbindlich für die Türkei an und
bekräftigte die Entschlossenheit, entsprechende Reformen
durchzuführen. Auch existieren Zusagen über Gespräche zur
Erarbeitung eines "Fahrplanes" für die Durchführung von
Reformen.(24)
Und in der Tat drängen die europäischen Regierungen nicht
nur mit Hochdruck auf eine Lösung des Zypernkonfliktes. In
Straßburg arbeiten gar europäische Rechtsexperten bereits in
an einem Entwurf für eine neue Verfassung der Türkei, die
den Kopenhagener Kriterien genügt, und das Land auf diesem
Gebiet formal integrationsfähig machen soll.(25)
Doch wie weit gehen die Demokratievorstellungen der EU
wirklich?
In seiner Rede bei der Vorbereitungskonferenz zum
Stabilitätspakt für Südosteuropa wies Bundesaußenminister
Fischer explizit auf die historischen Vorbilder hin, die der
Bundesregierung für die Demokratisierung der Region
vorschweben: "Es hat sich wiederholt gezeigt, welch
mächtige, friedensstiftende Kraft in der europäischen Idee
steckt - bei der Aussöhnung der 'Erbfeinde' Deutschland und
Frankreich, bei der Überwindung des Erbes der Diktatur in
Spanien, Portugal und Griechenland, zuletzt bei der
gesellschaftlichen Transformation und der Überwindung von
Minderheiten- und Grenzproblemen in Mittel- und
Osteuropa."(26)
Gerade in Griechenland nach dem Ende der Obristendiktaur und
im postfranquistischen Spanien wurde die Demokratisierung
der Gesellschaften allerdings unter Beibehaltung der
herrschenden Eliten betrieben. Die juristische Aufarbeitung
der von den jeweiligen Diktaturen begangenen Verbrechen kam
nur schleppend voran oder fand überhaupt nicht statt. Die
Staatsapparate und Verwaltungen, Polizei und Militär blieben
bis auf wenige personelle Veränderungen im Kern
unangetastet. (27,28)
Wie weitergehende Forderungen gegebenenfalls ausgehebelt
werden, mit welchen Mitteln eine mögliche Hegemonie
fortschrittlicher Kräfte in Demokratisierungsprozessen
hintertrieben werden kann und wie die Grenzen maximaler
europäischer Demokratiebereitschaft gewahrt bleiben, zeigt
die Sozialdemokratisierung der sozialistischen
portugiesischen Nelkenrevolution, die insbesondere durch die
deutsche Sozialdemokratie induziert wurde.(29)
Der im Frühsommer 1999 auf dem G8 Gipfel in Köln
verabschiedete Stabilitätspakt basiert auf der Grundidee,
daß eine politische Stabilisierung Südosteuropas im
sicherheitspolitischen Interesse der EU liege. Als Anreiz
bietet die EU die stufenweise Integration über Stabilitäts-
und Assoziierungsverträge an.(30) Und auch wenn die Türkei
nicht explizit unter den für diesen Pakt vorgesehenen
Ländern aufgeführt ist, sondern bereits auf einer höheren
Stufe des Aufnahmeprozesses gehandelt wird, so gehorchen die
Integrationsstrategien doch denselben Gesetzmäßigkeiten.
Gleichzeitig verabschiedete das Gipfeltreffen der
Europäischen Union eine Erklärung zum Ausbau der
militärischen Schlagkraft Europas. "Wir, die Mitglieder des
Europäischen Rates," heißt es dort, "wollen entschlossen
dafür eintreten, daß die Europäische Union ihre Rolle auf
der internationalen Bühne uneingeschränkt wahrnimmt. Hierzu
beabsichtigen wir, der EU die notwendigen Mittel und
Fähigkeiten an die Hand zu geben, damit sie ihrer
Verantwortung im Zusammenhang mit einer gemeinsamen
europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gerecht
werden kann." Es folgen Ausführungen über die dafür
notwendige "Umstrukturierung der europäischen
Verteidigungsindustrien".(31)
Nach menschlichem Ermessen und nach sorgfältiger Betrachtung
von Friedensprozessen in anderen Abschnitten der Geschichte
dürfte der gemeinsame Wille der USA und der EU mittelfristig
tatsächlich hinreichen, eine demokratische Veränderung der
Türkei und Frieden in Kurdistan herbeizuführen. Dieser Wille
ist jedoch weder ein Selbstzweck noch an den tatsächlichen
Bedürfnissen der kurdischen Bevölkerung oder der
demokratischen Kräfte der Türkei orientiert. Er orientiert
sich an den geostrategischen Interessen der USA und der EU.
Dazu gehört es nicht nur, die Türkei weiterhin
uneingeschränkt mit jenen Waffen auszustatten, die sie im
Rahmen des Bündnisses befähigen, die ihr zugedachte Rolle
auch in Zukunft zu erfüllen.
Auch die Auslieferung des Vorsitzenden der Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, an die Türkei gehörte zu
den Schritten einer europäisch-nordamerikanisch-türkischen
Lösung der kurdischen Frage.
Als der Öcalan im vergangenen Jahr in Rom eintraf, war die
Verständigung der EU auf eine gemeinsame Außenpolitik
gegenüber der Türkei noch nicht abgeschlossen. Diese
Verständigung zog sich über mehrere Monate hin und endete in
der sorgfältig abgewogenen Auslieferung des PKK-
Vorsitzenden.
Doch bereits in den - teils widersprüchlichen - Erklärungen
verschiedener Regierungen aus jener Zeit zeichneten sich
schon zentrale Aspekte ab, die sich auch in der heutigen
Demokratisierungspolitik wiederfinden lassen: eine Lösung
der kurdischen Frage sollte ohne die gestalterische
Beteiligung der kurdischen Seite, insbesondere ohne
Beteiligung der PKK stattfinden. Nur das öffentliche
Interesse an Öcalans Aufenthalt in Rom, und der Versuch der
PKK die EU zu einer Parteinahme zu bringen, schien diese
Absicht zeitweise zu durchkreuzen.
Die europäische Position hat sich in diesem Punkt bis heute
wenig geändert. Man wolle die PKK nicht als "Vertreterin
eines politischen Anliegens aufwerten", hieß es noch im Juni
in deutlichen Worten aus dem Auswärtigen Amt und
unterscheide "zwischen den berechtigten politischen Anliegen
der kurdischen Bevölkerung und dem Terrorismus bzw.
Seperatismus ..."
Stattdessen setzt die EU auf den sozialen Wiederaufbau des
zerstörten Landes, hier auch unter Einbindung der legalen
kurdischen Parteien.
Um nicht falsch verstanden zu werden, die von EU-Seite
angestrebte Demokratisierung wird in vielen Bereichen
Verbesserungen für die kurdischen und türkischen
demokratischen Kräfte mit sich bringen. Es macht real einen
großen Unterschied, ob man in Zukunft nicht mehr auf offener
Straße willkürlich ermordet oder verhaftet werden kann, ob
Menschen nicht länger systematisch abgeholt und in
Polizeihaft gefoltert, umgebracht oder "verschwunden"
gelassen werden und es macht einen riesigen Unterschied,
wenn es gelingen sollte dem Morden in Kurdistan ein Ende zu
bereiten.
All dies kann aber nicht das Ziel sondern nur die
Ausgangsbasis wirklicher Demokratisierung sein. Letztere
wird auch in Zukunft noch weiter politisch erstritten werden
müssen - notfalls auch gegen die Interessen der Europäischen
Union. Hierauf gilt es sich schon heute vorzubereiten.
(Knut Rauchfuss, 29.11.99)
1 Streitgespräch zwischen Ludger Volmer und dem Autor. WDR
III, 05.09.99
2 ebd.
3 Pressebüro des Weißen Hauses, 15.11.99
4 Thomas Klein "Deutsch-türkische Waffenbrüderschaft" in:
analyse & kritik 432, 11/99
5 J. Hippler und A. Lueg "Das Feindbild Islam in den
westlichen Medien" Hamburg 1993
6 K. Rauchfuss "... erkämpft das Menschenrecht ? -
Kinkelbesuch in der Türkei" in: SoZ 8/1997
7 Winfried Wolf "Bombengeschäfte - Zur politischen Ökonomie
des Kosovo Krieges", Hamburg 1999
8 Georg Fülberth "Stammtischzerlegung - Wessen Krieg ist der
Kosovokrieg?" in konkret 7/999 Noam Chomsky "The New
Military Humanism", Monroe 1999
10 Winfried Wolf a.a.O. Hamburg 1999
11 Michel Collon "Poker menteur. Les grandes puissances, la
Yugoslavie et les prochaines guerres.", Brüssel 1999
12 junge Welt vom 03.11.1999
13 WEU = Westeuropäische Union
14 Anton Landgraf "Solanas Macht" in jungle world 47/99
15 Angela Klein "Autoritäre EU-Reform" in SoZ 24/99
16 Jean Radvanyi "Der Westen knüpft in Mittelasien ein
geostrategisches Transportnetz - Die neue Seidenstraße führt
an Rußland vorbei" in Le Monde diplomatique vom 12.06.1998
17 Michel Collon a.a.O. Brüssel 1999
18 Klaus-Helge Donath "Der Kampf ums Öl" in taz vom
27.11.1999
19 Jürgen Gottschlich "Die moderne Seidenstraße wird gebaut"
20 Jean Radvanyi a.a.O. Le Monde diplomatique vom 12.06.1998
21 Jürgen Gottschlich "Die Türkei auf dem Weg nach Europa?"
in taz vom 22.07.1999
22 Gespräch mit dem Autor am 3.11.99, Cambridge, USA
23 Fassung vom 02. Oktober 1997
24 Bundestags-Drucksache 14/1368
25 Streitgespräch zwischen Ludger Volmer, Staatssekretär im
Auswärtigen Amt und dem Autor. WDR III, 5.9.99
26 Josef Fischer "Südosteuropa am Wendepunkt" Rede bei der
Vorbereitungskonferenz zum Stabilitätspakt für Südosteuropa
auf dem Petersberg bei Bonn, 27.05.99
27 Periklis Korovessis "Die Menschenwärter", Vorwort zur 2.
Dt. Auflage, Frankfurt Main 19812
amnesty international "Folter in Griechenland - Der erste
Prozeß gegen Folterer 1975", Baden-Baden 1975
28 Walther L. Bernecker "Spaniens Geschichte seit dem
Bürgerkrieg", München 1984
29 Günter Schröder [Hrsg.] "Portugal: Materialien und
Dokumente" Bd. 1-5 Gießen 1975
30 Hans-Georg Erhard "Stabilitätspakt für Südosteuropa" in
Blätter für deutsche und internationale Politik 8/99
31 "Erklärung des Europäischen Rates zur Stärkung der
gemeinsamen europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik." Gipfeltreffen der EU, Köln 3. und 4.
Juni 1999
--
** Vom Ende einer Null zum Anfang der Nächsten erweist sich der Sinn als einfacher Akt des Wollens **
## CrossPoint v3.1 ##
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